Mit Nicolas Christen an der WM in Las Vegas:
Der Urner Spitzenringer Nicolas Christen hat an den Weltmeisterschaften in Las Vegas neun intensive Tage erlebt. Das Aus kam früher als gewünscht, aber schon fasst er ein neues grosses Ziel ins Auge.
von Toni Christen
Aus und vorbei! Aus und vorbei? 11.38 Uhr, Las Vegas. The Orleans Arena an der 4500 West Tropicana Avenue, einen Steinwurf entfernt vom Las-Vegas-Strip. Nicolas Christen sitzt auf der zweitobersten himmelblauen Stufe zum Kampfplatz B. Direkt vor der Pressetribüne. Sein Blick ist auf den Boden gerichtet, gefühlte 10 Sekunden lang. Der Kampf ist aus. Der 21-jährige Urner hat soeben den Sechzehntelfinal verloren. Nicolas Christen ist Mitglied der Schweizer Nationalmannschaft im Ringen. Nominiert für die Gewichtsklasse 66 Kilogramm griechisch-römisch. Sein Stammverein ist die Ringerriege Schattdorf. Es ist seine erste Teilnahme an einer Weltmeisterschaft bei der Weltelite. Es herrscht Hochbetrieb auf den vier Matten im klimatisierten Stadion. The show must go on. Nach seiner Niederlage sucht Nicolas Christen den Ausgang aus dem Innenraum der Arena. Rund 6000 Zuschauer sind anwesend, darunter auch ein paar Urner, zum Beispiel Stephan Imholz, Präsident der Ringerriege Schattdorf, oben im Sektor 107. Die Urner- und Schweizerfahnen werden eingerollt. Die Enttäuschung beim Anhang ist selbst aus Distanz fühlbar. Ein paar Minuten lang herrscht bei den Fans Schweigen.
«Arme blutleer»
16.30 Uhr, 4 Stunden nach dem Kampf. Die Lust aufs Essen fehlt, trotz Hunger. Nicolas Christen sitzt am hintersten Tisch im French Market Buffet im Hotel The Orleans in Las Vegas. Er stochert in Gedanken versunken auf dem Teller herum. Wenn nur die Fragen der anderen Ringer und Betreuer nicht wären. Das Hotel hat 1881 Zimmer. Alle Beteiligten wohnen, essen und bewegen sich hier. Die Arena ist direkt mit dem Casino-Hotel verbunden. «Eine riesige Sache ist das hier.» Das Ausweichen auf Fragen ist schwierig. Fragen und Antworten gehören nun mal zum Sport, an einer WM ganz besonders. Offensichtlich fehlte Nicolas Christen im zweiten Teil des Wettkampfs die Kraft. «Meine Arme fühlten sich blutleer an», sagt er. Spielte dabei die deutliche Gewichtsabnahme auf 65,9 Kilogramm in den vergangenen Wochen und Monaten eine Rolle? Oder die kurze Angewöhnungszeit, nur 36 Stunden vor dem Wettkampf? Erklärt sich daraus die fehlende Spritzigkeit im zweiten Teil des Wettkampfs? Hätten Injektionen von Kochsalzlösungen Abhilfe geschaffen? «Das kommt bei mir nicht infrage», sagt Nicolas Christen. Er nimmt einen Bissen Fleisch zu sich. Das Essen schmeckt ihm immer besser.
Halt bei den Eltern
18.15 Uhr. Der in Rothenburg wohnhafte Nicolas Christen nimmt auch im Sektor 107 Platz. Er sucht die Nähe zu seinen mitgereisten Eltern. Die Urner Gruppe verpflegt sich an einem der zahlreichen Stände in den Katakomben der 8000 Zuschauer fassenden Arena. Nicolas Christen isst erneut mit. Ernährung mit Fast Food made in USA. In der Arena läuft die Eröffnungszeremonie. Ein Sechstel der Wettkämpfe ist zwar schon Geschichte, aber in Las Vegas geht (fast) alles. Rund 800 Ringer, 900 Trainer und Betreuer aus 94 Nationen sind an dieser Weltmeisterschaft dabei. Um 22.00 Uhr stehen die ersten drei Weltmeister fest. Einer davon ist der Deutsche Frank Stäbler, in Nicolas Christens Kategorie. War das der letzte Kampf des Urners in dieser Gewichtsklasse?
«Eine wichtige Erfahrung»
Andrji Maltsev sitzt auf einem der freien Plätze im Sektor 108. Der ehemalige ukrainische Spitzenringer ist der Trainer von Nicolas Christen. Er wohnt im Freiamt und hat den Schweizer Pass. Nachdenklich schaut er sich die Finalkämpfe des ersten Wettkampftages an. «Nicolas ist erst 21 Jahre alt, das dürfen wir nicht vergessen. Er ist zum ersten Mal an einem so grossen Wettkampf. Das ist eine wichtige Erfahrung für ihn.» Am Tag danach, beim Frühstück, berichtet Nicolas Christen Erfreuliches: Sportler-Rekrutenschule in Magglingen statt Rekrutenschule in Thun als Panzersoldat! Ende Oktober darf er in die Rekrutenschule als qualifizierter Sportler einrücken. «Das gibt mir die notwendige Sicherheit», sagt Nicolas Christen – und kommt auf die finanzielle Belastung in seinem Sport zu sprechen. «Ohne die Unterstützung meiner Eltern, meines Arbeitgebers und verschiedener Sponsoren könnte ich diesen Sport in diesem Ausmass nicht ausüben.» Er sagt dies im Casino-Hotel The Orleans in Las Vegas, auf dem langen Weg vom Frühstück in Richtung Aufzug ins Zimmer 904, vorbei an zahllosen Glücksspielautomaten und Pokertischen. «Vorgestern habe ich an einem Kasten 60 Dollar gewonnen. Aber bereits gestern war ich diesen Gewinn wieder los.» Im Ringen lässt sich auch kein Geld verdienen. Für einen ambitionierten Einzelsportler in einer Randsportart alles andere als einfach. Die Reduktion des Arbeitspensums auf 60 Prozent, mehrwöchige Trainingslager in der Schweiz oder in Osteuropa: All das kostet Geld. Selbst ein paar Hobbyfussballer haben es da mitunter besser. Auch im Urnerland.
Blick nach vorn
Nach seinem Einsatz erholt sich Nicolas Christen in Las Vegas bis zum Ende der Weltmeisterschaft. Von der Enttäuschung ist äusserlich nichts mehr zu spüren. Er blickt erneut nach vorn. An jedem der sechs WM-Tage ist er in der Arena. «Ich lerne jeden Tag dazu, die Stimmung ist toll.» Nicolas Christen deckt sich mit Trainingskleidern ein. 4 Stunden verweilt er sich im Belz Factory Outlet im Süden von Las Vegas. Nach 1998 und 2009 ist es Nicolas Christens dritter Besuch im südlichen Teil des US-Gliedstaates Nevada. «2009 haben mich meine Eltern für meine damaligen Erfolge bei den Junioren belohnt», sagt er. Davon wollte er ihnen heuer etwas zurückgeben, in Form einer Qualifikation für den Achtelfinal. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Auf einem Ausflug auf den Hoover-Damm erwähnt Nicolas Christen ganz nebenbei sein ganz grosses Ziel: «Wir wollen die Qualifikation für die Olympischen Spiele 2020 in Tokio anpacken, in der Gewichtsklasse 75 Kilogramm.» Das heisst ab sofort: Gezielt an Muskelmasse und Gewicht zulegen. Der umgängliche Schattdorfer Ringer liebt den Mannschaftswettkampf. Erfolge mit Schattdorf schätzt er. «Dieses Umfeld brauche ich, das ist meine Heimbasis.» Und diese Heimbasis braucht auch ihn.